Der Tag war schon angebrochen, als Rhys auf nackten Füßen durch den stinkenden Morast der Gassen von Orkendorf stolperte. Es war als würden die Erinnerungen aus den ersten etwa fünfzehn Götterläufen seines Lebens, die er versucht hatte zu vergessen, innerhalb weniger Stunden zurück kehren und auf ihn einschlagen. Wie ein Hammer, welcher ein Schmied auf einen Amboss hämmert. Auf einer Treppe ließ er sich nieder und sein Blick schweifte über die sich zusehendes belebende Straße.
Er sah die Alten, die im Müll nach Verwertbaren, vielleicht sogar Essbarem suchten. Er sah die ärmlichen Handwerker, wie Schuhputzer und Tagelöhner, die auf dem Weg waren, um eine erbärmliche Arbeit für den Tag zu suchen. Er sah die Frauen, die am Brunnen veralgtes Wasser schöpften, um damit den gröbsten Dreck aus ihrer Wäsche zu waschen. Er sah die Bettler, die in Richtung Oberflur schlurften, um dort den einen oder anderen Heller der Barmherzigkeit zu erbitten. Er sah die (meist) unfähigen Bader und Scharlachtane, die den Kranken ihre Dienste anboten. Er sah die Kinder, die im Schmutz der Straße und den Fäkalien im Rinnsaal nach verlorenen Münzen und ähnlichem suchten. Er sah die stolzierenden Jugendlichen, denen eine Bandenmitgliedschaft eine vermeintliche und trügerische Sicherheit versprach.
Er sah Menschen, die sich in ihrem Leid und Elend suhlten, bis sie nach einem unglücklichen und hoffnungslosen Leben an Krankheit, Alter oder durch einen Dolch im Rücken verstarben. Dabei gibt es doch Nichts, was sie hier hält. Niemand hindert sie daran die Stadt zu verlassen und auf dem Land Albernias ihr Glück zu suchen. Niemand verbietet ihnen zum Hafen zu gehen und beim erstbesten Schiff anzuheuern, um an fernen Gestaden ein neues Leben zu beginnen. Niemand steht ihnen im Wege, wenn sie sich die Freiheit nehmen und einfach aufbrechen würden. Woanders hin. Denn überall ist es besser als hier. Doch sie bleiben.
Ob soviel Dummheit und Feigheit schüttelte Rhys sein Haupt. Nur zu gut wusste er, dass außerhalb von Orkendorf eine Welt darauf wartet erobert zu werden. Dass man woanders besser leben kann als hier. Er ist aufgebrochen. Doch nur durch die Not getrieben, wie ihm einfiel. Er hatte Orkendorf nicht verlassen, weil er sich woanders ein besseres Leben erhofft hatte. Er war geflohen, weil ihm hier der Tod gedroht hatte. Davor war auch er nie auf den Gedanken gekommen dieses Stadtviertel zu verlassen, dass er woanders hin konnte. Dummheit? Unwissenheit? Faulheit? Was auch immer es gewesen war, er konnte es nicht genau benennen. Doch jetzt wusste er um die Welt, die hinter den Grenzen von Orkendorf und hinter den Stadtgrenzen von Havena lag.
Man musste nur aufbrechen. Einen Schritt vor den Anderen machen. Die große Reise wagen. Neugierig sein auf das, was hinter der nächsten Wegbiegung liegt. Erforschen, was sich unter der Kimm befindet. Sich an der Freiheit erfreuen, wenn das Schiff unter vollen Segeln neuen Zielen entgegen strebt. Frei zu sein an einer Weggabelung selbst zu entscheiden, welcher Straße man folgen möchte. Auf seinen Bauch hören und seinem Herzen folgen. Denn irgendwo da draußen vermag man das Glück zu finden. Das Glück frei zu sein. Und natürlich auch die eine oder andere Münze.
Ein seltsames Lächeln lag auf Rhys‘ Lippen, während er zu den Kindern hinüber blickte, die in den Abfällen und dem Schlamm nach ihrem Glück suchten. Und natürlich nach der einen oder anderen Münze.
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