Leise ließ Rhys die Tür des Hauses hinter sich ins Schloss fallen. Der enge Flur lag voller Unrat und auch hier waren die Wände feucht und von Schimmel bedeckt. Selbst ohne sein Wissen in der Heilkunde hätte Askir gewusst, dass das nicht gesund sein kann. Vorsichtig, ohne unnützes Knarzen zu vermeiden, setzte er auf den Stufen der Stiege einen Fuß vor den Anderen. Aufmerksam lauschte er, in der Hoffnung etwas zu hören, dass ihn zu seinem Ziel führt. Immer höher führte ihn sein Weg über die Stiege. Vorbei an Türen, hinter denen es still war. Vorbei an einer Tür, hinter denen das Schnarchen eines Mannes zu vernehmen war. Vorbei an einer Tür, hinter denen Kinder plärrten und die Stimmen der entnervten Eltern zu hören waren. Vorbei an einer Tür, hinter der ein Paar sich gerade seiner Lust hingab.
Erst, als er fast das letzte, unter dem Dach gelegene Treppenpodest erreicht hatte, hörte er den gröhlenden Gesang eines betrunkenen Mannes: „Wer mit Niall will auf große Fahrt gehen, das müssen Männer ohne Skrupel sein.“ Während Rhys näher an die Tür heran schlich verstummten die Mißtöne. Kurze Zeit war es still, bevor ein lautes Rülpsen ertönte. „Diener. Er schließe die Tür.“ Ein Ton, wie bei einem Schluckauf war zu vernehmen. „Verdammich, hab‘ ja noch gar keinen Diener.“ Es blieb eine Weile still und Rhys schob seinen Kopf in die Türöffnung, um einen Blick in den Raum zu werfen. Es war – wie nicht anders zu erwarten – eine heruntergekommene Absteige. Niall stand schwankend in der Mitte des Raumes vor seiner Lagerstatt. Den Hut, Mantel, Weste und das Hemd hatte er schon ausgezogen und auf sein Bett geworden.
Rhys hatte die Situation noch gar nicht zur Gänze erfasst, als der Mann kurz verharrte, bevor er sich mit schnellem Schritt zu einer Ecke des Raumes bewegte. Dort kniete er vor einem Eimer nieder und erbracht sich in denselbigen. Noch während Niall würgte betrat Rhys – die Situation ausnutzend – das Zimmer auf möglichst leisen Schritten. Er nahm einen Holzschemel zur Hand und stellte sich hinter den Knieenden. Als dieser zu Ende gewürgt hatte und nur noch Galle nach Außen brachte, begann sich der Betrunkene zu erheben. Dies war der Augenblick, in dem Rhys weit ausholte und mit seiner ganzen Kraft den Schemel auf den Schädel des Räubers niederschmettern ließ. Dieser sackte ohne ein weiteres Wort neben dem Eimer zu Boden.
Zufrieden lächelnd schritt Rhys zur Tür und schloß sie. Zufrieden streichelte er über seinen Säbel, der auf der Innenseite der Tür in seinem Gehänge gehangen hatte. Dann entkleidete er Niall und warf die Sachen zu den Anderen aufs Bett. Ein lose herum liegendes Tuch riss er in Streifen und mit geübten Handgriffen fesselte er den Mann, wobei etliche Seefahrerknoten zum Einsatz kamen. Der so Verschnürte und Geknebelte saß bald an einer Wand gelehnt in einer Zimmerecke. Rhys ließ sich nun Zeit das Zimmer nach Wertvollem und Brauchbarem zu durchsuchen. Es wunderte ihn nicht, dass sein Beutel mit Münzen lange nicht mehr so schwer war, als zum Zeitpunkt des Raubes. Doch wichtiger war das Pergament, welches er wohlbehalten in seiner Manteltasche fand.
Nachdem er sich der Lumpen, die er in Orkendorf beschafft und getragen hatte, entledigt hatte, setzte er sich – nur in Bruche – auf das Bett. Er griff zu der Flasche auf dem Boden, die noch zu gut der Hälfte gefüllt war, und nahm einen Schluck. Es war der gute Selbstgebrannte aus dem „Krähennest“. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen und er schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann legte er sich zurück und wenig später war er erschöpft eingeschlafen – und er das Getrampel von Niall weckte ihn einige Stunden später.
Schlaftrunken setzte sich Rhys auf und blickt zu dem Mann hinüber, der ihn hasserfüllt anstarrte. Rhys hob eine Braue hoch. „Sei froh, dass Du noch am Leben bist. Viele Andere hier wären nicht so nett gewesen und hätten mit Dir kurzen Prozess gemacht, wenn du sie niedergeschlagen und beraubst hättest.“ Dies schien den Räuber jedoch nicht zu besänftigen und es ist nur zu vermuten, dass seine unter dem Knebel nur undeutlichen Worte wüste Beschimpfungen waren. Rhys zuckte mit den Schultern. In früheren Jahren – und auch noch nach seiner Flucht aus Havena – hätte er diese Skrupel nicht gehabt und Niall läge jetzt in seinem eigenen Blut. Doch die Zeiten ändern sich. Langsam zog Rhys sich seine Sachen an. Den Hut in der Hand nickte er dem Räuber noch einmal kurz zu, bevor er sich sein Säbelgehänge über den Kopf streifte und das Zimmer verließ.
Er eilte die Treppe hinunter und trat im frühen Licht des Morgens auf die Strasse. Rhys blickte sich noch einmal um und prägte sich das Elend und den Schmutz seiner Herkunft ein. Er sog die stinkende Luft von Orkendorf ein. Ja, die Zeiten hatten sich geändert. Rhys betrachtete kurz den Dreispitz in seiner Hand und setze ihn schwungvoll auf sein Haupt. Dann verließ Askir Orkendorf ohne noch einmal zurück zu blicken.
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